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Leiter: |
Prof. Dr. Walter Bruno Berg |
Mitarbeiter: |
Anette Andrée (stud. Hilfskraft), Mechthild Jörder (wiss. Hilfskraft), Sandra Krost (wiss. Hilfskraft), Irma Lorini (wiss. Hilfskraft), Joachim Michael (wiss. Hilfskraft), Dr. Markus Klaus Schäffauer (wiss. Hilfskraft/wiss. Ang.), Jasna Tomicic (wiss. Hilfskraft) |
Projektbeginn: |
01. 10. 1993 |
Allgemeine Ziele: |
Thema des Projektes sind Phänomene der "Mündlichkeit" im Bereich der argentinischen Literatur sowie die Entstehung eines seit dem 19. Jh. zu beobachtenden, auf diese Mündlichkeitselemente bezogenen nationalen Identitätsdiskurses. Versteht man unter "Mündlichkeit" in Argentinien zunächst einmal jene spezifisch mündliche Variante des argentinischen Spanisch, welche sich vornehmlich in phonetischer, sodann in morpho-syntaktischer Hinsicht und schließlich auch durch zahlreiche Besonderheiten im Vokabular von der peninsularen "Norm" oder anderen Varietäten des Spanischen unterscheidet, so zeigt sich, daß linguistische Beschreibungskriterien alleine nicht ausreichen, um die volle Bandbreite der ästhetischen, aber auch der zunehmend politischen Funktion dieser Elemente im literarischen Text zureichend zu beschreiben. Es ging deshalb zunächst einmal um das Problem der Erstellung eines allgemeinen Modells literarischer Mündlichkeit, welches sowohl den linguistischen Varietäten der literarischen Mündlichkeit i.e.S., ihrem prinzipiellen Fiktions- und Konstruktcharakter als schließlich auch der unterschiedlichen historischen Semantisierung, der sie unterliegen, Rechnung zu tragen vermochte. Mündlichkeit in der argentinischen Literatur stellt sich dem Modell zufolge dar als ein kompliziertes Spannungsfeld zwischen 8 verschiedenen "Parametern", von welchen lediglich der zweite und der dritte ("Mündlichkeit" sowie "Bewertung von Mündlichkeit") nach linguistischen Kriterien i.e.S. beschreibbar sind. Die übrigen haben "translinguistischen" Charakter, d.h. sie konstituieren sich sowohl nach historisch-soziologischen, literarästhetischen, ideologischen als auch allgemein diskursiven Kriterien. In schematischer Darstellung, bezogen auf J. Hernández' Versepos Martín Fierro sowie M. Gálvez' Kurzroman Historia de arrabal, ergibt sich somit folgendes Bild:
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Arbeitsprogramm: |
In der relativ kurzen Laufzeit des Projekts mußte ein umfangreiches Arbeitsprogramm bewältigt werden. Ein erster Arbeitsschritt bestand in der Erarbeitung methodologischer Grundlagen, der Sichtung des internationalen Forschungsstandes, der Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes sowie der Erstellung eines konkreten Untersuchungskorpus:
Sandra Krost erstellte eine Bibliographie zum Diskurs der argentinischen Nationalliteratur, ermittelte den Stellenwert der vielbändigen Historia de la literatura argentina von Ricardo Rojas für das Projekt und verfaßte schließlich eine Kurzmonographie zur "Idioma nacional"-Debatte ("Der programmatische Diskurs über Nationalsprache und nationale Identität in Argentinien"). Das Aufgabengebiet von Sandra Krost wurde teilweise von Jasna Tomicic sowie Mechthild Jörder übernommen. Tomicic erstellte verschiedene Vorstudien zu argentinischen Realisten der Jahrhundertwende; Jörder fertigte eine Kurzmonographie zum Romanwerk von Manuel Gálvez an. Da Krost, Tomicic und Jörder das Projekt nach relativ kurzer Zeit wieder verließen, konnten ihre Arbeiten nur zu einem vorläufigen Abschluß gebracht werden und fanden Eingang in parallele Arbeiten des Projekts. Irma Lorini erarbeitete die soziologischen und historischen Hintergründe der argentinischen Identitätsdebatte und beschäftigte sich insbesondere mit der Problematik der Einwanderung seit dem letzten Drittel des 19. Jh. Lorini hat drei Kurzmonographien erstellt zu den Themenkreisen "Immigration", "argentinischer Nationalismus" und "Revisionismus". Eine Zusammenfassung ihrer Arbeit zum Problem des argentinischen Revisionismus befindet sich im Druck. Anette Andrée hat sich von Beginn an mit der Mündlichkeitsproblematik in der argentinischen Theaterszene beschäftigt und legt eine umfangreiche Studie zum Teatro criollo vor, in der mehr als 30 Theaterstücke vorgestellt und analysiert werden. Joachim Michael erhielt den Auftrag, eine kontrastive Studie zur Figur des "gaúcho" in der brasilianischen Literatur zu erstellen. Obwohl eine abschließende Fassung seines Beitrags noch nicht vorliegt, bestätigen Teilergebnisse seiner Arbeit die dem Projekt zugrundeliegende Hypothese, dergemäß die Funktionsbestimmung des Gaucho als Träger eines spezifischen Nationalmythos als ein singuläres, auf die argentinische Literatur beschränktes Phänomen angesehen werden muß. Dank mehrwöchiger Studienaufenthalte in der Nationalbibliothek von Buenos Aires und im Iberoamerikansichen Institut Berlin hatte Markus Klaus Schäffauer in der Anfangsphase des Projekts entscheidenden Anteil an der Erstellung des Untersuchungskorpus. Auf der Grundlage dieser Vorarbeiten formulierte Schäffauer 1994 das Thema seiner Dissertation: scriptOralität in der argentinischen Literatur - Funktionswandel der Oralität in Realismus, Avantgarde und Post-Avantgarde (1890-1960). Die Arbeit kam 1996 zum Abschluß und erhielt das Prädikat "summa cum laude". Als Projektleiter beschäftigte sich Walter Bruno Berg zunächst vornehmlich mit den methodologischen Aspekten des Projekts. Im Wintersemester 1995/96 faßte Berg die bis zu diesem Zeitpunkt erzielten Ergebnisse des Projekts in einer breit angelegten Vorlesung Schriftlichkeit und Mündlichkeit in der lateinamerikanischen Literatur zusammen. Während des im Sommersemester wahrgenommenen Forschungssemesters hatte er Gelegenheit, eine spanische Version dieser Vorlesung im Rahmen von Einladungen zu Postgraduiertenkollegs an Universitäten in Rio de Janeiro (Brasilien) und Tucumán (Argentinien) vorzutragen. Das hierbei entstandene Manuskript wird in dem in Arbeit befindlichen Sammelband Oralitätsdiskurse in der argentinischen Literatur im 19. und 20. Jh. veröffentlicht. Wichtige Impulse erhielt das Projekt durch die im Herbst 1994 und 1995 durchgeführten Internationale Kolloquien Oralidad y Argentinidad bzw. Brasil no contexto latinoamericano, bei denen es gelang, renommierte nationale und internationale Wissenschaftler wie Paul Verdevoye, Beatriz Sarlo, Leo Pollmann, Dieter Reichardt, Michael Rössner, Carlos Rincón oder Mario Goloboff nach Freiburg einzuladen. Neben dem Projektleiter selbst trugen I. Lorini und M.K. Schäffauer eigene Arbeiten vor. |
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Ergebnisse: a) Argentinidad und Oralidad im argentinischen teatro menor (A. Andrée) |
Auch nach ihrem Ausscheiden aus dem Projekt (Dezember 1994) hat sich A. Andrée weiterhin mit dem "teatro criollo" befaßt. Mittlerweile ist ein umfangreiches Manuskript entstanden, in welchem 30 Theaterstücke, die in der Periode zwischen 1890 und 1930 entstanden sind, behandelt werden. Andrée untersucht die Texte in vornehmlich literatursoziologisch-ideologiekritischer Perspektive und arbeitet die Funktion der Mündlichkeit als Medium eines sozialen Oppositionsdiskurses heraus, der insbesondere im Einwanderermilieu der Jahrhundertwende Anklang fand. Im Gegensatz zur Gauchoposie bzw. der zur gleichen Zeit im Aufschwung befindlichen "literatura arrabalesca" wird der offizielle Identitäts- bzw. Nationaldiskurs auf der Bühne des "teatro menor" mit den Mitteln grotesker Komik destruiert.
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b) scriptOralität in der argentinischen Literatur - Funktionswandel der Oralität in Realismus, Avantgarde und Post-Avantgarde (1890-1960) (M. K. Schäffauer) |
In seiner Dissertation hat sich Markus Schäffauer mit dem Funktionswandel der Oralität in der argentinischen Literatur befaßt. Die Arbeit geht von der methodologischen Grundannahme aus, daß in der Literatur eine der Oralität vorgängige Schrift(lichkeit) gesehen werden kann, die das, was mit Oralität bezeichnet wird, als Diskurs erst hervorbringt. Diese Annahme stützt sich im wesentlichen auf die Kritik des logozentrischen Schriftbegriffes, wie sie von Jacques Derrida in De la grammatologie zugunsten eines weiter gefaßten Schriftbegriffes vorgebracht worden ist. Um die logozentrische Verschleierung der literarisch vermittelten Interdependenz von Oralität und Scripturalität zu bezeichnen, wird der dekonstruktivistische Begriff scriptOralität gewählt. Er bezieht sich insbesondere auf die literarische Setzung der Oralität als einen Ursprung, dessen Telos die Scripturalität ist. Schäffauer zufolge ist in keinem anderen lateinamerikanischen Land die Suche nach der nationalen Identität so früh und nachhaltig mit einem scriptOralen Konstrukt verknüpft worden wie in Argentinien: In der "oralen" Gaucho-Poesie suchten argentinische Intellektuelle und Literaten bereits im 19. Jh. die Verkörperung des nationalen Volksgeistes. Diese Funktion der Oralität in der argentinischen Literatur als Begründung der nationalen Identität wandelt sich jedoch im Laufe der Epochen: Der Identitätssuche der Realisten (Fray Mocho; Francisco Grandmontagne) setzten die Avantgardisten (Jorge Luis Borges; Roberto Mariani; Roberto Arlt) eine andere, eine moderne Identität entgegen, die sich zwar ihrerseits auf das gesprochene Argentinisch berief, aber nicht mehr auf dasjenige der volkstümlichen Gauchos des 19. Jh., sondern auf dasjenige der alteingesessenen Argentinier des 20. Jh., des kleinbürgerlichen Mittelstandes oder gar der Arbeiterschicht. Erst von post-avantgardistischen Autoren (Jorge Luis Borges; Julio Cortázar) wird die einseitige Bindung von literarischer Oralität und Identitätsuche aufgehoben: Die gesprochene Sprache, die der literarischen Sprache am weitesten entfernt zu sein scheint, wird als die Sprache des Anderen entdeckt, als Herausforderung mithin, kulturelle Identität als Alterität zu denken.
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c) Breve historia de la oralidad en la literatura argentina (W. B. Berg) |
Es handelt sich um das anläßlich der Postgraduiertenkollege in Rio de Janeiro und Tucumán entstandene Manuskript. Unter Zugrundelegung des oben erläuterten "Modells" wird versucht, die Entwicklung literarischer Mündlichkeit in der argentinischen Literatur als einen mit den Mitteln der ästhetischen Form geführten "Kampf um Anerkennung" darzustellen. Es werden zunächst verschiedene Spielarten der "poesía gauchesca" (José Hernández und Estanislao del Campo) behandelt, sodann der durch Fray Mocho repräsentierte "costumbrismo", die Mündlichkeit im "teatro criollo", die Behandlung der Mündlichkeitsproblematik bei dem Erfolgsautor Manuel Gálvez und schließlich der Höhepunkt der Entwicklung in den Kurzgeschichten "Hombre de la esquina rosada" (Jorge Luis Borges) und "Las puertas del cielo" (Julio Cortázar).
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Weiterführende Fragen: |
Es ist gelungen, die Thematik im Sinne der ursprünglichen Zielsetzung des Projekts wenn auch nicht in allen Punkten erschöpfend, so doch exemparisch zu behandeln. Nach Veröffentlichung der noch ausstehenden Manuskripte, insbesondere des vorgesehenen Sammelbandes kann das Projekt deshalb im wesentlichen als abgeschlossen gelten. Weiterführende Studien zu bislang eher am Rande behandelten Teilgebieten der Thematik, so z.B. dem weiten Feld des realistischen Romans, können zur Klärung und Ergänzung der bisher erzielten Ergebnisse beitragen, ohne daß zu erwarten ist, daß die Grundannahmen des Projekts hiervon berührt werden. Diesen letzteren zufolge indiziert die im Projekt thematisierte Mündlichkeit ein auf das kulturelle und politische Macht-Zentrum Buenos Aires bezogenes Identitätsmodell, welches unbeschadet aller ideologischen und sozialen Dichotomien und Antagonismen seit dem 19. Jh. fraglos in Geltung geblieben ist. So stellt ja auch die Protestbewegung der Gauchokultur -wie Sarmiento bereits im Facundo feststellte- keineswegs die Geltung des Zentrums als solches in Frage, sondern erhebt lediglich den Anspruch, dieses mit neuem Inhalt zu füllen. Hier zeichnet sich in der neuesten Entwicklung der Literatur nun in der Tat eine Alternative ab: Mündlichkeit als Indikator eines de-zentrierten, regionalistischen Identitätsmodells, als Auf- und Abarbeitung einer kulturellen und politischen "deuda interna", wie sie in einem Filmtitel von Miguel Pereira programmatisch bezeichnet wird. Es gehört zu den wichtigsten Ergebnissen des Projekts, diese Grenze der eigenen Fragestellung sichtbar gemacht zu haben. Sie zu überschreiten, wäre Aufgabe eines neuen Projekts.
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Bibliographie: |
(Stand: Oktober 1998)
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