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Badische Zeitung Interview, 10.03.2010

Andreas Gelz über das Phänomen des Skandals

(Link: http://www.badische-zeitung.de/kultur-sonstige/manchmal-ist-es-wie-ein-malstrom--28119818.html)

Skandale gibt es immer wieder. Aktuell bewegt der Missbrauch von Schülern kirchlicher Internate die Öffentlichkeit. Das "Freiburg Institute for Advanced Studies" (Frias) veranstaltet jetzt eine Tagung über das Phänomen, initiiert vom Freiburger Romanisten Andreas Gelz. In den Vorträgen geht es um den religiösen Skandal wie um den kulturellen und politischen. Über die Dimensionen des Phänomens sprachen Thomas Steiner und Bettina Schulte mit Gelz.

BZ: Herr Gelz, wir verstehen unter Skandal meist ein politisch-gesellschaftliches Phänomen. Warum beschäftigen Sie sich als Literaturwissenschaftler damit und warum die School of Language and Literature am Frias?

Andreas Gelz: Weil der Skandal im Wesentlichen ein kommunikatives Phänomen darstellt, das in literarischen Formen, aber auch in anderen Medien artikuliert und tradiert worden ist und wird.

BZ: Die von Ihnen initiierte Tagung hat den Untertitel "Repräsentationsformen eines gesellschaftlichen Ärgernisses zwischen religiöser Norm und säkularer Gesellschaft". Spiegelt sich darin die Geschichte des Begriffs "Skandal" wider?

Gelz: Auf jeden Fall. Wir haben Vorträge zur Problematik des religiösen "Skandalons", nicht nur zum gängigen Begriff des Skandals als Element der kritischen Öffentlichkeit unserer modernen Gesellschaften. Das Spannende ist, dass in verschiedenen Kulturen der religiöse Skandalbegriff – also zum Beispiel Blasphemie oder Häresie – wesentlich länger gewirkt hat, als wir uns das im Rahmen unserer Modernisierungsmodelle eingestehen wollen. Und wenn wir uns heute in der Welt umsehen, entdecken wir ein Wiedererstarken dieses religiösen Skandalbegriffs: Denken Sie an die Konflikte zwischen religiösem Fundamentalismus und Zivilgesellschaft, etwa an den Karikaturenstreit, in dem dieser alte Skandalbegriff wieder von Bedeutung ist. Auch zu diesem Thema wird es auf der Tagung einen Vortrag geben.

BZ: Nehmen wir noch ein Beispiel aus dem Tagungsprogramm: Was war "Der Skandal der natürlichen Religion", wie einer der Vorträge heißt?

Gelz: Natürliche Religion meint den in der Zeit der Aufklärung einsetzenden Versuch, Glauben im Sinne einer vernunftförmigen Religiösität in Übereinstimmung mit allgemeinen ethischen oder religiösen Vorstellungen neu zu denken. Indem so die historischen Religionen vergleichbar wurden, relativierte eine solche Auffassung natürlich die Geltung des Christentums als Offenbarungsreligion – ein Skandal für die Vertreter der katholischen Kirche.

BZ: Auch wenn es nicht religiöse sind, hat nicht jeder Skandal, auch ein politischer, tiefere Dimensionen?

Gelz: Es geht bei jedem Skandal um sonst meist nicht zur Sprache kommende Normen, die scheinbar verletzt werden. Es geht um unausgesprochene Wertkonflikte, die plötzlich und eruptiv an die Öffentlichkeit kommen. Diese Tiefendimensionen des Skandals machen ihn auch attraktiv für den Wissenschaftler, weil er hier Phänomene untersuchen kann, die sonst in dieser kondensierten Form nicht sichtbar sind.

BZ: Sie selbst halten einen Vortrag über die Poetik des Skandals. Sind Skandalgeschichten immer ähnlich aufgebaut? Am Anfang steht der Normverstoß, der wird aufgedeckt, es wird ein Schuldiger gefunden und bestraft?

Gelz: Es gibt eine medienwissenschaftlich fundierte Forschung über Skandale und Skandalgeschichten, oder wie man heute sagt: Skandalnarrative. Sie geht davon aus, dass der Skandal der Vereinfachung, der Komplexitätsreduktion dient. In diesem Zusammenhang spricht man sogar von modernen Märchen, von Mythen. Es gibt aber aus den Kulturwissenschaften auch Überlegungen, die sagen, der Skandal sei im Gegenteil ein Organon zur Steigerung von Komplexität. Manche Verläufe zeigen, dass Skandale wie ein Malstrom die Protagonisten mitreißen, und ihre Kontrolle über die Ereignisse in der Vielfalt der Geschichten verloren zu gehen droht.

BZ: Es gibt nicht immer den Sündenbock?

Gelz: Es gibt immer wieder den Versuch, den Skandal so zu deuten, dass man sagt, hier ist das Gute und hier das Böse. Aber die Dynamik, die er manchmal entwickelt, zeigt, dass die Dinge mitunter komplizierter liegen.

BZ: Frau Käßmann hat es genau richtig gemacht – hier gab es nur die Geschichte mit der Alkoholfahrt. Und durch ihren Rücktritt nichts mehr.

Gelz: Unter dem Gesichtspunkt des reinen Skandalmanagements hat sie es richtig gemacht. Das Gegenbeispiel ist der Missbrauchsskandal: Die Empörung ist da, aber sie kann sich nicht ein für alle Mal entladen – wir hören ja ständig neue Missbrauchsmeldungen.

BZ: Für einen Skandal braucht es immer den, der "Skandal" ruft, und den, der angegriffen wird, es braucht aber auch eine Öffentlichkeit, die das aufnimmt. Gibt es einen Skandal nur, wenn eine Mehrheit sich betroffen fühlt?

Gelz: Für Skandaltheorien ist die Öffentlichkeit eine wichtige Konstituente. Ein Skandal, der nicht bekannt wird, ist demnach kein Skandal. Die schwierige Frage ist in unserer aktuellen Gesellschaft: Taugt dieses klassische Bild der Öffentlichkeit als Einheit, die durch einen Wertekonsens zusammengehalten wird, noch angesichts unserer fragmentierten Teilöffentlichkeiten? Was für die einen ein Skandal ist, muss für die andern nicht unbedingt ein Skandal sein.

BZ: Nehmen wir das Verhalten der Banken vor der Finanzkrise. Da ist klar, dass das die Mehrheit als Skandal empfindet.

Gelz: Da sind die Mehrheitsverhältnisse ziemlich eindeutig. Aber ist zum Beispiel ein Doping-Skandal ein Skandal für alle? Es soll ja auch Stimmen geben, die sagen, lasst uns doch das Doping freigeben.


Die Tagung "Skandal" vom 11. bis 13. März am Frias ist öffentlich.
Informationen zum Programm: http://www.frias.uni-freiburg.de